philipphoelzle1

12. Nov. 20215 Min.

meHRdigital #3.6 People Analytics

Werden wir jetzt alle von der KI durchleuchtet?

Personal-Controlling – Workforce oder People Analytics – People foresight: Viele Begriffe für das Arbeiten mit HR-Daten. Allen gemein: Die Digitalisierung eröffnet gänzlich neue Möglichkeiten.

Die Personalfunktion ist eine der datenintensivsten Funktionen in der Organisation. Dennoch erleben wir, dass das Controlling dort zumeist nicht so systematisch betrieben wird, wie in anderen Einheiten, insbesondere im Finanzwesen, aber auch im Vertrieb, im Marketing oder in Produktteams. Wie lässt sich – gerade auch durch weitere Digitalisierung – das Arbeiten mit personalwirtschaftlichen Kenngrößen optimieren? Welche Risiken müssen dabei betrachtet werden?

Dafür muss zunächst die Frage beantwortet werden, was denn das Ziel einer solchen Optimierung ist. Das HR Analytics durch Digitalisierung profitiert, ist wohl für die meisten ersichtlich. Doch unterscheiden sich die Intentionen, die mit (weiterer) Digitalisierung erreicht werden sollen, teilweise erheblich.

Die Einen wollen den Aufwand reduzieren und für die Erstellung von HR-Berichten und Kennzahlen weniger manuelle Arbeit mit der Tabellenkalkulation verbringen. Andere wünschen sich hingegen vorausschauende Analysen, mit künstlicher Intelligenz erstellte Prognosen und Entscheidungsunterstützungen. In dieser Bandbreite bewegen wir uns, was auch schon die vielen Begrifflichkeiten ausdrücken, die hier gehandelt werden.

Das HR-Controlling ist seit den 80er Jahren etablierte Funktion, zumindest in größeren Personalbereichen. Doch schon die Bandbereite der Definitionen, was sich hinter dem Begriff verbirgt, ist eine enorm breite, sie reicht vom Kennzahlensystem bis hin zu einer Denkhaltung (vgl. Hölzle, 1998, S. 7) (1). So hat folglich Marr (2) bereits 1989 den Standpunkt vertreten, dass es weder möglich noch sinnvoll ist, eine quasi-objektive Definition von Personal-Controlling anzustreben. Und seit dieser Zeit ist die Bandbreite eher noch größer geworden. Auch in der Praxis existiert kein einheitliches Verständnis, was zahlreiche Studien gezeigt haben (3).

Die Vielfalt ist – auch durch zahlreiche neue Begriffe – eher noch eine größere geworden, neue Schlagworte wie HR Analytics, Workforce Analytics, People Analytics, Talent Analytics oder auch People Intelligence helfen nicht, Klarheit zu schaffen. Es gibt viele Versuche, die vielen Begrifflichkeiten genauer zu fassen und gegeneinander abzugrenzen. Wir wollen hier keinen weiteren Versuch einer exakten Definition versuchen, sondern über zwei Dimensionen vier Felder aufspannen, zu denen wir Beispiele für konkrete Inhalte aufzeigen:

Schon bei der Bereitstellung eines "einfachen" Personalberichtswesens kann mithilfe der Digitalisierung ein großer Mehrwert erzeugt werden. So können Mitarbeitenden und Führungskräften effizient im Portal Berichte zur Verfügung gestellt werden, die jeweils die aktuellen Daten enthalten. Nach unserer Erfahrung erfreuen sich auch scheinbar einfache Reports, wie etwa Geburtstags- oder Jubiläumslisten großer Beliebtheit.

Auch das online abgebildete Organigramm, ggf. versehen mit einigen wenigen Top-Kennzahlen in jedem Kästchen (z. B. FTE, Fehlzeitquote, oder auch „strenght of pipeline“ für die Nachfolgesituation) wird zumeist als nützlich empfunden.

Mit vertretbarem Aufwand lassen sich aus der Datenbasis Reports erstellen und online bereitstellen, die für das operative Management sehr hilfreich sind, wie z. B. Listen zu Arbeitsverstößen, Gleitzeitsalden und -kappungen oder auch Entgelthistorien der Mitarbeitenden.

Doch gerade wenn die Darreichung der aufbereiteten Daten einfacher wird, gilt es zu beachten, dass die Inhalte sorgfältig definiert werden. Nicht nur, damit die Datenbasis korrekt ist, sondern insbesondere, um die Steuerungsrelevanz genau zu hinterfragen und Fehlsteuerungen zu vermeiden.

Es gilt, die alte englische Weisheit „you get what you measure“ zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund sprechen wir gerne auch von „toxischen Kennzahlen“.

Dazu zwei Beispiele:

  • Die Fluktuationsquote wird gerne als KPI (Key Performance Indicator) für Führungsqualität genutzt. Doch stellen wir uns folgende Situation vor: Eine Führungskraft mit einem Team von 8 Mitarbeitenden verliert durch eine konstatierte Aktion des Wettbewerbs 2 Top Player, die im Wesentlichen das Ergebnis des Teams getragen haben. Zu Recht zeigt der KPI ein Problem an, der FK war es nicht gelungen, die Top Player zu halten. Doch was ist nun die Konsequenz: Um nicht noch weiter abzurutschen, muss die Führungskraft nun alles daran setzten, die übrige Mannschaft zu binden, auch wenn dort Mitarbeitende dabei sein sollten, die das Teamergebnis eher nach unten ziehen. Bei dieser Kennzahl wäre es somit zumindest wichtig, „ungewollte Fluktuation“ zu definieren.

  • „Time to fill position“ ist ein klassischer KPI im Recruiting. Doch wird ein Recruiter oder eine Führungskraft konsequent hieran gemessen, ist die Gefahr gegeben, zumindest mit einem Auge darauf zu schielen, welche/r Kandidat:in am schnellsten verfügbar ist, nicht darauf, wer die beste Eignung mitbringt.

Insbesondere wenn die Erreichung von Kennzahlen mit monetären Boni gekoppelt wird, erleben wir oftmals eine hohe Kreativität (die auch viel Arbeitszeit benötigt), Kennzahlen gut aussehen zu lassen, statt sinnvolle Ergebnisse zu produzieren.

Wirklich neue Anwendungsfelder erschließen sich hinsichtlich der Analyse von Daten und der Mustererkennung in großen Datenhaushalten. Neue Funktionalitäten lassen zumindest Korrelationen erkennen, die uns helfen, die Wirkung von Führungs- und Personalarbeit bewerten zu können. Hier ist es besonders wertvoll, wenn nicht nur auf Personaldaten, sondern übergreifend auch auf die „Datentöpfe“ der anderen Bereiche zugegriffen werden kann und Leistungsdaten aus dem Betrieb zur Verfügung stehen.

Darüber hinaus sind heute zahlreiche Tools verfügbar, um sehr pragmatisch und kostengünstig ad hoc qualitative Daten erheben zu können. Spot-Befragungen generieren anlassbezogen wertvolle X-Daten (Experience Daten, Rückmeldungen zur Wahrnehmung und Wirkung von Maßnahmen) und heutige prozessorientierte Tools liefern umfangreiche O-Daten (operative Daten zu den Abläufen, bspw. Mengen, Zeiten, Nutzungsintensitäten etc.). Die Datenverfügbarkeit ist grundsätzlich keine Hürde mehr, zumindest nicht aus technischer und prozessualer Sicht. Man muss nicht mehr auf die jährliche Mitarbeiterbefragung warten, um Rückmeldung zu qualitativen Daten zu erhalten (vgl. hierzu auch den Blogbeitrag #1.3 zu Employee Experience, in dem das X- und O-Daten-Konzept vorgestellt wird).

Bei aller Euphorie über die neuen Möglichkeiten, empfehlen wir aber auch hier, mit wachem Auge auf die Risiken zu schauen. Einige wollen wir hier thematisieren:

  • Pfadabhängigkeit: Mustererkennung funktioniert mittels historischer Daten. Die Algorithmen werten vorhandene Daten aus, erkennen Zusammenhänge und antizipieren auf die Zukunft. In unserer volatilen Welt müssen wir jedoch sehr kritisch prüfen, ob solche Fortschreibungen sinnvoll sind. Insbesondere im Karrieremanagement sind Zweifel mehr als berechtigt: Analysieren wir, welche Profilausprägungen in der Vergangenheit besonders erfolgreich waren, wird es uns schwer fallen, die Vielfalt zu erhöhen.

  • Umgehungsstrategien, Aufwand, um den Algorithmus zu besiegen: Im angelsächsischen Raum ist die automatisierte CV Auswertung als maschinell vorgeschalteter Filter im Recruiting schon deutlich weiter verbreitet als bei uns. Daraus ist bereits ein Dienstleistungsmarkt entstanden, CVs so aufzubereiten, dass die richtigen Schlagworte und deren Verkettungen genutzt werden, um die ersten Hürden sicher zu nehmen. Wird auch im weiteren Talent Management mehr und mehr auf die automatisierte Suche nach den optimalen Talenten und Nachfolgekandidat:innen gesetzt, ist Ähnliches zu erwarten. CV-Tuning wird dann ein relevanter Zeitfaktor für alle Kandidat:innen.

  • Mitarbeitervertrauen in den sensiblen Umgang mit persönlichen Daten: Welche persönlichen Daten werden für welchen Zweck herangezogen? Eine hohe Aktualität persönlicher Daten, insb. erweiterter Daten wie Skills, Erfahrungen, Einsatz- und Karrierewünsche ist nur zu erreichen, wenn diese im Self-Service eigenverantwortlich gepflegt werden. Dies wird nur dann geschehen, wenn die Mitarbeitenden den Sinn und Zweck der Erhebung verstehen und den persönlichen Nutzen sehen. Sobald Zweifel entstehen, für welche weiteren, verdeckten Zwecke die Daten genutzt werden, sind Vollständigkeit, Aktualität und Korrektheit stark gefährdet.

Auch wenn die Datenbasis und die Auswertungsalgorithmen immer besser werden, sollten Personalentscheidungen nicht alleinig durch die KI getroffen werden. Automatisierte Analysen können dem Management helfen, bessere Entscheidungen zu treffen, da eine deutlich breitere Datenbasis genutzt werden kann, als sie ohne die technische Unterstützung auswertbar wäre.

Einen hohen Nutzen bietet People Analytics also insbesondere dann, wenn die Verbindung von datengestützter Evidenz und menschlicher Verantwortung und Kreativität erschlossen wird. Damit dies gelingt, ist nicht nur die technische Grundlage notwendig, sondern auch ein Fördern des digital Mindsets (siehe hierzu auch unseren meHRdigital Blogbeitrag #1.2), um Berührungsängste abzubauen und Chancen, aber auch Risiken zu erkennen und die Technik zum Nutzen der Organisation, aber auch des Einzelnen einzusetzen.


Quellen und weitere Lesetips

(1) Hölzle, Philipp (1999), "Prozessorientierte Personalarbeit - Vom Personal- zum Führungs-Controlling", Peter Lang Verlag, Frankfurt

(2) Marr, Rainer (1989), "Personal-Controlling" in: Personalführung, Heft 7, 1989, Seiten 694-702

(3) Vgl. etwa Metz, Franz, "Konzeptionelle Grundlagen, empirische Erhebungen und Ansätze zur Umsetzung des Personal-Controlling in die Praxis", Peter Lang Verlag, Frankfurt

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